Rede

Wie groß ist „groß“?

I

„Wie groß können wir denken?“
Buckminster Fuller1

Auch Metaphern haben ihre Schicksale. Als Buckminster Fuller 1969 seine berühmte „Betriebsanleitung für das Raumschiff Erde“ publizierte, machte er die kühne, ja utopische Annahme, in den sozialen Systemen sei die Zeit reif geworden für eine Übergabe der Steuerungskompetenzen  von den Politikern und Finanziers zu den Designern, Ingenieuren und Künstlern. Die Annahme beruhte auf der Diagnose, wonach die Angehörigen der ersten Gruppe – wie alle „Spezialisten“ – immer nur durch ein kleines Loch auf die Realität blicken, das ihnen nicht mehr als einen Ausschnitt zu sehen erlaubt. Indessen entwickelten die letzteren von Berufs wegen holistische Ansichten und bezögen sich auf das Panorama der Realität im ganzen.

Es war, als hätte die romantische Devise „die Phantasie an die Macht!“ den Atlantik überquert und wäre an der anderen Küste als die Parole „das Design an die Macht“ entschlüsselt worden. Die Kühnheit von Buckminster Fullers Publikation, die bald zu einer Bibel der „Gegenkultur“, nachmals der Alternativen wurde, zeigte sich nicht in seiner Verachtung für die scheinbar Großen und Mächtigen der Welt, von denen er meinte, sie seien „heute nur noch von geisterhafter Erscheinung“. Sie bestand  in der wahrhaft ungeheuerlichen Neudefinition des heimatlichen Planeten: Von diesem kritischen Moment an durfte die gute alte Erde nicht länger als eine Naturgröße vorgestellt werden, sondern war als ein riesenhaftes Artifizium aufzufassen. Sie war kein Fundament mehr, sondern ein Konstrukt, sie war keine Basis mehr, sondern ein Fahrzeug.

Es spricht für die Ungeheuerlichkeit wie die Unwiderstehlichkeit von Buckminster Fullers Metapher, daß sie binnen weniger als eines halben Jahrhunderts ins kollektive Bewußtsein einsickerte. Zugleich bezeichnet es die akute Bedrohlichkeit der Lage an Bord der Raumschiffs Erde, daß – nach wenig überzeugenden Vorspielen in Kyoto und einem dutzend anderer Klimagipfel – in diesen Tagen zum ersten Mal eine effektive Vollversammlung der Politiker und Unterhändlern dieses Planeten  zusammentritt, um einigermaßen ernsthaft über das Klima-Management an Bord des Raumschiffs zu beraten. Man hat in der Zwischenzeit begriffen, daß die Rede vom Raumschiff Erde kein Ausweichen in poetische Unverbindlichkeit mangels präziserer Begriffe bedeutet. Die Metapher stellt hier die höchste Form des Begriffs dar. Seine Wahrheit enthült sich in der Angemessenheit seiner Implikationen an die reale Lage. Wenn die Erde ein Raumschiff ist, so muß seine Besatzung sich tatsächlich vor allem an der Aufrechterhaltung lebbarer Verhältnisse im Innern des Fahrzeugs interessiert zeigen – die Raumfahrttechnologen sprechen diesbezüglich von dem Life Support System (LSS), das an Bord von Raumstationen die biosphäre-mimetischen Konstanten kontrolliert. Atmosphären-Management wird darum zum ersten Kriterium der von jetzt an zu postulierenden Steuerungskunst für das integrale Raumschiff. Zu bedenken ist hierbei: In diesem Gefährt fallen keine Sauerstoffmasken automatisch von der Kabinendecke, sollte der „unwahrscheinliche Fall“ einer Luftverknappung eintreten. Es wäre auch absurd zu behaupten, Leuchtstreifen am Boden führten zu den Notausgängen – das Raumschiff Erde besitzt keine Ausgänge, weder für den Notfall noch für den Normalfall. Und was die Leuchtstreifen am Boden angeht, was sind sie anderes als eine milde Hypnose für Passagiere mit Flugängsten? Die Angst der Gäste an Bord des Raumschiffs Erde muß mit konkreteren Mitteln gemildert werden. Zu ihrer Behandlung sind revolutionäre kognitive und technische Prozeduren erforderlich.

Buckminster Fuller hat die bisher wichtigste Bedingung für den Aufenthalt von Menschen an Bord des Raumschiffs Erde präzise benannt: Den Passagieren wurde keine Bedienungsanleitung mitgeliefert, vermutlich, weil sie von selber hinter das Geheimnis ihrer Situation kommen sollten. Tatsächlich wird die Erde, soviel wir wissen, seit fast zwei Millionen Jahren von Menschen und Menschenvorläufern bewohnt, „die nicht einmal wußten, daß sie an Bord eines Schiffes sind“.[2] Anders ausgedrückt: Den Menschen war in der Vergangenheit bei ihren Navigationen ein hohes Maß an Ignoranz zugestanden, da das System auf die Duldung hoher Grade menschlicher Unwissenheit ausgelegt war. Doch in dem Maß, wie die Passagiere anfangen, das Geheimnis der Lage zu lüften und mittels der Technik Macht über ihre Umwelt zu ergreifen, sinkt die anfängliche Ignoranzduldung durch das System ab, bis ein Punkt erreicht ist, an dem bestimmte Formen des unwissenden Verhaltens mit dem Aufenthalt der Passagiere an Bord nicht mehr verträglich sind. Das In-der-Welt-Sein des Menschen, von dem die Philosophie des 20. Jahrhunderts sprach, enthüllt sich somit als ein An-Bord-Sein auf einem störungsanfälligen kosmischen Fahrzeug. Vom aktuellen Blickpunkt aus gesehen erweist sich die Geschichte des Denkens auf dem Planeten als ein finalisiertes kognitives Experiment, in dessen Verlauf die Wahrheit über die globale Situation ans Licht gebracht werden mußte. Wer an Bord des Raumschiffs den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, legt sich früher oder später Rechenschaft ab über die Tatsache, daß wir Autodidakten der Raumfahrt sind. Der wahre Begriff für die conditio humana heißt darum: Autodidaktik auf Leben und Tod. Autodidakt ist, wer die entscheidenden Lektionen ohne Lehrer lernen muß. Ich füge hinzu, daß uns deswegen der Rückgriff auf religiöse Überlieferungen in diesen Dingen nicht weiter hilft, weil die sogenannten Weltreligionen ausnahmslos einem prä-astronautischen Weltverständnis verhaftet sind – selbst Jesus konnte durch seinen Aufstieg in den Himmel zur Bedienungsanleitung des Raumschiffs Erde nichts Nennenswertes beitragen.

Mit diesen Überlegungen ist eine Aussage über das Verhältnis von Sein und Wissen verbunden: Das Wissen hat wesenhaft einen Rückstand auf die Wirklichkeit – ja, man könnte sagen, es trifft prinzipiell verspätet ein. Angesichts dessen drängt sich die Frage auf, ob aus der Verspätung des Wissens gefolgert werden muß, daß es auch in bezug auf  unsere künftigen Probleme notwendigerweise zu spät komme. Glücklicherweise sind wir in der Lage, diese Frage verneinen zu können. Es gibt eine prognostische Intelligenz, die sich genau in der Lücke zwischen „spät“ und „zu spät“ geltend macht. Diese Intelligenz ist es, die sich hier und heute energisch artikulieren soll. Während bisher für einen großteil des menschlichen Lernen das Gesetz galt, daß man allein „aus Schaden klug wird“, muß die prognostische Intelligenz klug werden wollen, bevor der Schaden eingetreten ist – ein Novum in der Geschichte des Lernens. Um in die Logik solcher Lernprozesse einzudringen, ist eine Kritik der prophetischen Vernunft vonnöten. Diese darf sich von dem basalen Paradoxon des Unheilsprophetismus nicht abschrecken lassen: daß er, wenn er erfolgreich war, ex post wie ein überflüssiger Alarm aussehen wird, weil eben aufgrund seines Dazwischentretens nicht passiert sein wird, wovor er warnte. Umrisse einer solchen Kritik hat Jean-Pierre Dupuy in seiner Studie Pour un catastrophisme éclairé präsentiert. Demnach können nur Apolyptiker vernünftige Zukunftspolitik betreiben, weil allein sie auch das Schlimmste als reale Möglichkeit bedenken.

Klug werden heißt heute vor allem: verstehen, daß der kinetische Expressionismus der letzten Jahrhunderte radikal modifiziert werden muß, wenn er schon nicht beendet werden kann. Unter kinetischem Expressionismus verstehe den Daseinsstil der Modernen, der vor allem durch die leichte Verfügbarkeit von fossilenergetischen Brennstoffen ermöglicht wurde. Seit diese Stoffe praktisch in jedermanns Hand gelangt sind, führen wir ein Leben, als ob Prometheus das Feuer ein zweites Mal gestohlen hätte. Was das bedeutet, wird klar, wenn wir zugeben, daß die zweiten Feuer längst nicht nur unsere Motoren treiben, sondern auch in unseren existentiellen Motiven, in unseren vitalen Begriffen von Freiheit brennen. Wir können uns keine Freiheit mehr vorstellen, die nicht immer auch Freiheit zu riskanten Beschleunigungen einschließt, Freiheit zur Fortbewegung an fernste Ziele, Freiheit zur Übertreibung und zur Verschwendung, ja schließlich auch Freiheit zur Explosion und zur Selbstzerstörung. Den kinetischen Expressionismus hören wir sprechen, wenn der junge Goethe 1776 in einem Sturm-und-Drang-Brief an Lavater schreibt: „Ich bin nun ganz eingeschifft auf der Woge der Welt – voll entschlossen: zu entdecken, gewinnen, streiten, scheitern, oder mich mit aller Ladung in die Luft zu sprengen.“  Wir hören ihn, wenn Nietzsche in Ecce homo erklärt: „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“ Und wir sehen ihn praktisch am Werk, wenn Phileas Fogg, der Held von Jules Vernes Reise in achtzig Tagen um die Welt auf dem letzten Stück seiner Erdumrundung während der Atlantikpassage – von New York zurück nach England – in Ermangelung von Kohlen damit beginnt, die Holzaufbauten des eigenen Schiffes herunterzureißen, um mit ihnen die Brennkammern der Dampfmaschinen zu füttern. Jules Verne hat mit dem sich selbst verbrennenden Schiff des Phileas Fogg nicht weniger als eine Weltmetapher für das industrielle Zeitalter gefunden: Sie evoziert die fatale Selbstreferentialität eines Verkehrs, der die eigenen Grundlagen verheizt – man muß bis zu dem frühromantischen Dichter Novalis und seiner kritischen Vision der „sich selbst mahlenden Mühle“ zurückgehen, um ein Bild von ähnlicher Prägnanz zur Beschreibung des aktuellen modus vivendi zu entdecken. Kinetischer Expressionismus ist aber schon der Geste inhärent, mit welcher Queen Elisabeth I. von England auf den bekannten Stichen des 16. Jahrhunderts ihre herrscherliche Hand auf den Erdglobus legt, wie um zu zeigen, nun habe eine Ära begonnen, in der die Herren der Welt sich nicht mehr mit ihren eigenen Ländereien begnügen, sondern ihre Macht auf die fernsten Weltgegenden ausdehnen müssen. Der Expressionismus wird politisch, sobald das Subjekt, das sich verwirklichen will, die Güter der ganzen Welt für seine Sehnsucht und seinen Konsum reklamiert. Das für moderne Lebensformen konstitutive Prinzip Wachstum  meint nichts anderes als kinetischen Expressionismus in Aktion.

 

II

„Wir sind auf einer Mission: Zur Bildung der Erde sind wir berufen.“
Novalis3

Der Expressionismus der Modernen beruht auf einer Annahme, die für die Menschen früherer Zeiten so selbstverständlich war, daß sie praktisch nie explizit formuliert werden mußte. Für sie stellte die Natur ein unendlich überlegenes und darum auch grenzenlos belastbares Außen dar, das alle menschlichen Entladungen absorbierte und alle Ausbeutungen ignorierte. Diese spontane Naturidee hat die Geschichte der Menschheit bis gestern bestimmt, und noch heute gibt es unzählige Zeitgenossen, die sich nicht vorstellen können und wollen, in diesem Punkt könne ein Umdenken notwendig werden. Der entfesselte expressionistische Zug im Lebensstil der reichen Zivilisationen von heute hat jedoch klar gemacht: Die Gleichgültigkeit der Natur gegen das menschliche Treiben war eine Illusion, die dem Zeitalter der Ignoranz entsprach. Es gibt Grenzen des Ausdrucks, Grenzen der Emission, Grenzen der Duldung von Unwissenheit – und weil es solche Grenzen gibt, auch wenn wir nicht wissen, wo genau sie zu ziehen wären, gerät die scheinbar unvordenkliche Idee der Natur als einer alles-absorbierenden Äußerlichkeit ins Wanken. Mit einem Mal sehen wir uns genötigt, die widernatürlich scheinende Vorstellung zuzulassen, daß die terrestrische Sphäre im ganzen durch die menschliche Praxis in ein einziges großes Interieur verwandelt worden ist. Buckminster Fuller hatte die Verantwortung für diese erschütternde Wende in die Hände der Designer legen wollen, von denen er eine „komprehensive“ und „antizipatorische“ Denkweise forderte. Solches Denken sollte die „Weltplanung“ im „totalen Kommunikationssystem des Menschen“ auf dem Raumschiff Erde ermöglichen.

Vierzig Jahre nach der Publikation von Buckminster Fullers Manifest stellt sich heraus, daß es weniger die Designer sind, die für die Durchsetzung der neuen Welt-Idee des Makro-Interieurs gesorgt haben, als vielmehr die Meteorologen. Für uns ist evident: Nicht das Design, die Meteorologie ist an die Macht gekommen. Sie hat sich politisch und wissenschaftlich durchgesetzt, weil sie für den Augenblick das suggestivste Modell des globalen Interieurs anbietet: Sie handelt von dem dynamischen Kontinuum der terrestrischen Gashülle, das wir seit den Tagen der griechischen Physiker die Atmosphäre – wörtlich: die Dunstkugel – nennen. Die Gespräche über das Wetter haben aufgehört, harmlose Konversationen zu sein, seit uns die Klimawissenschaftler bewiesen haben, daß die Atmosphäre ein Gedächtnis hat: Sie hat den Rauch aus den Schornsteinen der frühen industriellen Revolution immer noch nicht ganz vergessen, und sie wird auch nichts von alle dem ganz vergessen, was die Kohlekraftwerke der entwickelten Länder, die Heizungsanlagen der Megacities, die Flugzeuge, die Schiffe, die Automobile der Wohlhabenden und die unzähligen offenen Feuer der Armen auf allen Kontinenten in sie entlassen, obschon gewöhnlich die Hälfte davon durch Ozeane und Biosphäre gebunden werden. Gewiß, auch andere Relikte humaner Fragwürdigkeit werden von der Erde aufbewahrt: Noch in unseren Tagen werden im norddeutschen Schlamm Hufeisen entdeckt, die den Durchzug römischer Kavallerie beweisen. Dem deutschen Boden wird von der Anwesenheit der römischen Hufeisen weder warm noch kalt. Hingegen ist die Erdatmosphäre ein sensibler Deponieraum: Sie zeigt die Neigung, auf vergangene und gegenwärtige Emissionen mit Erwärmung zu antworten. Wenn die Meteorologen die Wahrheit sagen, wird die erwartbare Veränderung des Klimas in vielen Weltgegenden zu Verhältnissen führen, die mit menschlichem Dasein, wie wir es gekannt haben, nicht verträglich sind.

Somit sind die Meteorologen in die Rolle von Reformatoren geraten. Sie übermitteln den Menschen in den Industrienationen wie in den großen Schwellenländern einen Aufruf zur Umkehr hinsichtlich ihres Lebensstils: Sie fordern nicht weniger als eine mittelfristige Dekarbonisierung der Zivilisation und einen weitgehenden Verzicht auf die enormen Annehmlichkeiten des fossilenergetisch basierten modus vivendi. Der Einschnitt, den diese Postulate bedeuten, reicht so tief, daß man berechtigt ist, nach großen Analogien zu greifen: Das von den Menschen des 21. Jahrhunderts geforderte Umdenken geht weiter als die Reformationen des 16. Jahrhunderts, in denen immerhin die Regeln des Verkehrs zwischen Erde und Himmel revidiert wurden. Es erinnert geradewegs an die Stimme Johannes’ des Täufers, die zur totalen Umkehr aufrief. Die Stimme aus der Wüste verlangte damals nicht weniger als eine Metanoia, die das triviale egoistische Ethos des Alltags durch den moralischen Ausnahmezustand des Herzens ersetzen sollte – dieser Ruf sollte die permanente Revolution auslösen, die wir Christentum nennen. Schließlich läßt die heutige Forderung nach Umdenken auch an die subtile Bemerkung Platons in seinem Dialog Sophistes denken, wonach der Streit zwischen den Ideenfreunden (vulgo den Idealisten) und den Liebhabern der wahrnehmbaren Körper( vulgo den Materialisten) über den Sinn des Seins einem Gigantenkampf gleichkomme – einem Kampf,  der aufgrund der Strittigkeit der Sache selbst so lange dauert, wie es Menschen gibt, um für die eine oder andere Position zu votieren.

Der aktuelle Kampf um das Klima hat nicht mehr die „Erdherrschaft“ zum Gegenstand, von der die politischen Kommentatoren des imperialistischen Zeitalters mit Vorliebe sprachen. Vielmehr geht es in ihm um die Möglichkeit, den Zivilisationsprozeß offenzuhalten und seine Fortsetzung zu gewährleisten. Nach der gegenseitigen Entdeckung der Kulturen durch den Fernverkehr zwischem dem 16. und dem 20. Jahrhundert führte dieser Prozeß eine provisorische Synthese der globalen Akteure durch Handel und Diplomatie herbei. Er soll demnächst vorangetrieben werden bis zum positiven Zusammenwirken der Kulturen in operationsfähigen gemeinsamen Institutionen – wobei wir die Frage beiseite lassen, ob „die Menschheit“ überhaupt imstande ist, ein kohärentes Wir oder eine praxisfähige volonté générale auszubilden. Nur zwei Dinge sind im Augenblick gewiß: zum einen, daß die meteorologische Reformation, deren Anfänge wir erleben, die Aussicht auf ein Zeitalter größter Konflikte eröffnet; zum anderen, daß das 21. Jahrhundert als ein Jahrmarkt der Erlösereitelkeiten in die Geschichte eingehen wird, an dessen Ende sich die Menschen nach Erlösung von der Erlösung und Rettung vor den Rettern sehnen werden. Es kündigt sich zugleich als eine Ära der Heuchelei und der Doppelmoral an. Nichtsdestoweniger wird es in dieser Zeit, jenseits von Eitelkeit, Panik und Heuchelrhetorik, stets um die ernste Frage gehen, ob sich auf dem Raumschiff Erde so etwas wie globales Stabilisierungsregime einrichten läßt. Zu bedenken ist hierbei, daß die Ansprüche an den Begriff Stabilisierung von Anfang an gemäßigt bleiben müssen. Die kulturelle Evolution kennt keine stabilen Gleichgewichte. Sie kann bestenfalls von einem lebbaren Ungleichgewichtszustand zum nächsten überleiten.

Schon heute lassen sich die Konturen des künftigen Gigantenkampfs erkennen. In ihm wird die idealistische Partei durch die Vertreter einer neuen Bescheidenheit vertreten. Sie konfrontieren ihre materialistischen Gegner mit der Forderung, daß alle Formen von kinetischem Expressionismus auf ein erdpolitisch tolerables Minimum reduziert werden müssen. Wenn wir verstanden haben, daß dieser Expressionismus mit dem modus vivendi der Wohlstandkulturen auf dem Planeten identisch ist, ja daß er die Gesamheit unseres „Stoffwechsels mit der Natur“, unseres Produzierens, unseres Konsumierens, unseres Wohnens, unseres Verkehrs, unserer Künste und Kommunikationen durchdringt und daß in jedem dieser Bereiche die Vorzeichen zur Stunde noch immer unbeirrt auf Wachstum  und Überbietung gestellt sind, so begreifen wir eines unmittelbar: Die expressions- und emissionsfeindliche Ethik der Zukunft zielt geradewegs auf die Umkehrung der bisherigen Zivilisationsrichtung. Sie verlangt Verminderung, wo bisher Vermehrung auf dem Plan stand, sie fordert Minimierung, wo bisher Maximierung galt, sie will Zurückhaltung, wo bisher Explosion erlaubt war, sie verordnet Sparsamkeit, wo bisher Verschwendung als höchster Reiz empfunden wurde, sie mahnt die Selbstbeschränkung an, wo bisher die Selbstfreisetzung gefeiert wurde. Denkt man diese Umschwünge zu Ende, so gelangt man im Zuge der meteorologischen Reformation zu einer Art von ökologischem Calvinismus. Dieser gründet sich auf das Axiom: Der Menschheit steht nur diese eine Erde zur Verfügung. Sie darf  folglich von ihrer Grundlage nicht  mehr verlangen, als sie zu geben imstande ist – bei Strafe der Selbstzerstörung. Auf diese Weise wird die Globalisierung paradox gegen ihre eigene Grundtendenz wirksam: Indem sie auf der ganzen Linie Expansionen durchsetzt, erzwingt sie Beschränkungen auf der ganzen Linie. Indem sie den Wohlstand generalisieren will, macht sie die Entdeckung, daß letztlich global nur dessen Gegenteil praktikabel wäre: Frugalität für alle.

Mit diesen Hinweisen treten die Giganten in Erscheinung, die im kommenden Jahrhundert aufeinander stoßen. Wir werden das Ringen zwischen Expansionismus und Minimalismus erleben. Wir werden wählen sollen  zwischen der Ethik des Feuerwerks und der Ethik der Askese. Wir werden spüren, wie die streitenden Alternativen sich in unseren Lebensgefühlen abbilden und wie wir zwischen den  Zuständen manischer Verschwendung und depressiver Sparsamkeit schwanken. Nietzsche hat über die Erde gelegentlich bemerkt, sie müsse einer externen Intelligenz als der „asketische Stern“ erscheinen, auf dem eine Elite von ressentimentgetriebenen depressiven Spiritualisten den Ton angab. Seit dem 20. Jahrhundert erlebt der wohlhabende Teil der Erde ein hedonistisches Zwischenspiel, das vorüber sein könnte, bevor das 21. Jahrhundert endet. Sollte die angekündigte Reformation zu einem meteorologischem Sozialismus führen, würde die Erde demnächst von außen als der frugale Stern wahrgenommen werden: Jeder einzelne Mensch würde auf ihm  ein kleines Emissionsguthaben verwalten, das ihm als shareholder der Atmosphäre und der übrigen Elemente zugestanden ist. Da Nietzsche zugleich ein Experte in Fragen der Götter- und Gigantenkämpfe war, wußte er, daß es in Konflikten dieser Größenordnung keine Neutralität gibt: „Ach! Es ist der Zauber dieser Kämpfe, dass, wer sie schaut, sie auch kämpfen muss!“4 Jeder Bürger der reichen Nationen wird den Gigantenkampf nicht nur in der eigenen Brust austragen, er wird auch durch seine privaten Konsumentscheidungen öffentlich machen, auf welche Seite er sich geschlagen hat.

 

III

„Indessen hat bis jetzt niemand herausgefunden, was der Körper alles vermag.“
Spinoza5

Bei diesem Stand der Überlegungen hat es den Anschein, als ob der ökologische Puritanismus die einzige vernünftige Moral an Bord des Raumschiffs Erde sein könnte. Man mag hierüber urteilen, wie man will:  Unbestreitbar bleibt, daß während des 20. Jahrhunderts eine neue Gestalt des absoluten Imperativs in die Welt getreten ist: „Du mußt dein Leben ändern“ – dieser Satz prägt sich seither mit unwidersprechlicher Autorität in die ethischen Intuitionen vieler Zeitgenossen ein. Er imprägniert unser Bewußtsein mit dem verbindlichen Auftrag, einen modus vivendi auszubilden, der den ökologisch-kosmopolitischen Einsichten unserer Kultur entspricht. Er erreicht einen Grad an Evidenz, der mit jener vergleichbar ist, kraft welcher vorzeiten die buddhistischen, die stoischen, die christlichen, die islamischen und die humanistischen Ethiken sich jeweils bei den von ihnen ergriffenen Individuen und Gemeinschaften Geltung verschafft haben und immer noch verschaffen. Weil der neue Imperativ wie jede große ethische Evidenz an alle appelliert, ist es realistisch, eine weltweit um sich greifende Welle des ethischen Enthusiasmus vorherzusagen. In dem wird sich der aktuelle Lebenswille mit dem aktuellen Gefühl für das Gute und Richtige zu einem machtvollen, vielleicht weltbewegenden Elan verbinden – innerhalb und außerhalb der überlieferten Religionen. Ebenso realistisch ist es, mit einer komplementären Welle der Resignation, des Defätismus und des zynischen „Nach-uns-die Sintflut“ zu rechnen.

In erster Lesung sieht es demnach so aus, als könne aus dem aktuellen Imperativ nichts anderes als eine Ethik der globalen Mäßigung folgen. Offen bleibt wohl allein die Frage, ob die Wende zur Bescheidenheit infolge eines freiwilligen Einlenkens der Populationen in den emissionsintensiven Kulturen erfolgt oder ob die Regierungen der reichen Nationen – in Ermangelung von Global Governance bislang die einzigen handlungsfähigen Makrosysteme – sich früher oder später gezwungen sehen werden, jeweils auf ihren Territorien eine Art von ökologischem Kriegsrecht zu proklamieren, unter dem erzwungen wird, was auf freiwilliger Basis nicht zu erreichen ist.

Auf den zweiten Blick zeigt sich, daß die Forderungen nach einer globalen Ethik der Mäßigung oder gar die Hoffnungen auf einen klimatischen Sozialismus illusorisch sind. Sie haben nicht nur die ganze Schubkraft expressionistischen  Zivilisation gegen sich, sie widersprechen auch den Einsichten in die Triebkräfte der höheren Kulturen. Diese sind nämlich ohne die Liaison zwischen dem Streben nach Selbsterhaltung und dem Willen zur Selbststeigerung nicht zu denken. In der Verbindung von Selbsterhaltung und Selbststeigerung ist die Vorentscheidung zugunsten einer Kultur enthalten, in welcher der Überfluß, die Verschwendung und der Luxus das Bürgerrecht erhalten. Schon Platon mußte bei seinen Überlegungen über die Einrichtung des idealen Gemeinwesens die Hypothese der frugalen Polis fallen lassen: Der weiseste der Griechen wußte nichts Passendes mehr zu erwidern, als Glaukon ihm nach der Schilderung einer Mahlzeit in der bedürfnislosen Stadt die grobe Frage entgegenhielt: „Wenn du eine Stadt für Schweine gegründet hättest, Sokrates, was würdest du ihnen anderes zu fressen als dergleichen?“6 Diesem Einwand muß Sokrates sich geschlagen geben und die Konstruktion einer üppigen Stadt zulassen. In analoger Weise sind wir heute gezwungen, bei allen Prognosen und Projekten für die Welt von morgen davon auszugehen, daß die Menschen in den reichen Nationen ihren Wohlstand und seine technischen Prämissen für Eroberungen halten, die sie nicht mehr aus der Hand geben. Sie werden überzeugt bleiben, es sei die Aufgabe der Evolution, durch stetiges Wachstum den materiellen Wohlstand und die expressiven Privilegien zu globalisieren, die sie selbst genießen. Sie werden sich weigern, sich mit einer Zukunft anzufreunden, die auf  Schrumpfung und Zurückhaltung gründet.

Hiergegen wenden die Verfechter der neuen Bescheidenheit ein, den Wohlhabenden von heute werde über kurz oder lang nichts anderes übrig bleiben, als sich den ökologischen Tatsachen zu beugen. In dem Maß, wie große Zahlen neuer Produzenten und Konsumenten in den Club der Verschwender eintreten, werden sich die Grenzen der Emission und des Ausdrucks immer dramatischer und immer früher bemerkbar machen. Hier kommt das Axiom ins Spiel, auf dem alle Grenzen-des-Wachtums-Argumente beruhen: Die Erde ist nur in einem einzigen Exemplar vorhanden – und doch leben die reichen Nationen heute bereits so, als ob sie anderthalb Erden ausbeuten dürften. Sollte ihr Lebensstil auf alle Mitbewohner des Planeten ausgeweitet werden, müßten der Menschheit nicht weniger als vier Erden zur Verfügung stehen. Da aber die Erde eine einzige, nicht multiplizierbare Monade darstellt, müssen wir den Vorrang der Grenze vor dem Impuls zur Überschreitung akzeptieren.

Fürs erste erscheint dieses Argument unwiderlegbar. Solange man die Erde und ihre Biosphäre als eine unvermehrbare Singularität auffaßt, muß das ausbeuterische Verhalten der modernen Ausdrucks- und Komfortzivilisation als eine unverzeihliche Irrationalität erscheinen. Der Umgang der Menschen mit ihrem Planeten gleicht dann einem Katastrophenfilm, in dem rivalisierende Mafiagruppen sich an Bord eines Flugzeugs in 12.000 Meter Höhe ein Feuergefecht mit großkalibrigen Waffen liefern. Gleichwohl ist es legitim, die Frage aufzuwerfen, ob wir aus der monadologischen Deutung der Erde die angemessenen Konsequenzen gezogen haben. Verstehen wir denn unsere Lage richtig, wenn wir den Planeten und seine Biosphäre als eine unmultiplizierbare Eins interpretieren und diese als ein unüberschreitbares Fixum aufassen? Wir sollten bedenken: Wir haben es nicht mehr allein mit dem kosmologischen Urdatum Erde und dem evolutionären Urphänomen Leben zu tun. Zu diesen Basisgrößen ist im Lauf der sozialen Evolution die Technosphäre hinzugetreten, die ihrerseits von einer Noosphäre animiert und moderiert wird. Im Blick auf diese beiden Zuwachs-Dimensionen sind wir berechtigt, den Satz Spinozas: bisher habe noch niemand bestimmt, was der Körper vermag – der sich auf den menschlichen Körper bezieht –, auf die Erde zu übertragen: Bisher hat noch niemand bestimmt, was der Erdkörper vermag. Wir wissen noch nicht, welche Entwicklungen möglich werden, wenn Geosphäre und Biosphäre durch eine intelligente Technosphäre und Noosphäre weiterentwickelt werden. Es ist nicht a priori ausgeschlossen, daß hierdurch Effekte auftreten, die einer Multiplikation der Erde gleichkommen.

Die Technik hat ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Wenn man sie bis heute zumeist unter dem Aspekt der Umweltzerstörung und der Biogenativität wahrnimmt, so verrät dies nur, daß sie sich in mancher Hinsicht noch immer in ihren Anfängen befindet. Vor einiger Zeit wurde der Vorschlag gemacht, zwischen Heterotechnik und Homöotechnik zu unterscheiden7 – wobei die erste auf Prozeduren der Naturvergewaltigung und der Naturüberlistung beruht, die zweite auf Prozeduren der Naturnachahmung und der Fortführung natürlicher Produktionsprinzipien auf artifizieller Ebene. Durch die Umrüstung der Technosphäre auf homöotechnische und biomimetische Standards würde mit der Zeit ein völlig anderes Bild vom Zusammenspiel zwischen Umwelt und Technik entstehen. Wir würden erfahren, was der Erdkörper kann, sobald die Menschen im Umgang mit ihm von Ausbeutung auf Koproduktion umstellen. Auf dem Weg der bloßen Ausbeutung bleibt die Erde für alle Zeit die begrenzte Monade. Auf dem Weg der Koproduktion zwischen Natur und Technik könnte sie ein Hybridplanet werden, auf dem mehr möglich sein wird, als konservative Geologen glauben.

Analoge Ideen haben die kreativeren Köpfe der Öko-Bewegung in aller Welt hervorgebracht. Sie haben uns vorgerechnet, wie man weltweit bei einer Halbierung des Ressourcenverbrauchs eine Verdoppelung des Wohlstands erzielt. In die gleiche Richtung zielt eine erratische Bemerkung Buckminster Fullers, die eine Brücke schlägt zwischen der wunderbaren Vermehrung der Brote im Neuen Testament und der metaphysisch gedeuteten Geschichte der Technik: „Durch die Anwendung der Hebelgesetze … ist es buchstäblich möglich…, mehr mit weniger zu erreichen. Vielleicht war es diese intellektuelle Bereicherung … die Christus in der Bergpredigt lehren wollte, jener dunklen Geschichte von den Broten und den Fischen.“ [8] Der Schluß seiner Betriebsanleitung gehört folgerichtig einem Appell an das Ethos der Kreativität: „So, Planer, Architekten und Ingenieure, ergreift die Initiative. Geht ans Werk, und vor allen Dingen, arbeitet zusammen und haltet nicht voreinander hinterm Berg, und versucht nicht, auf Kosten der anderen zu gewinnen. Jeder Erfolg dieser Art wird zunehmend von kurzer Dauer sein. Das sind die synergetischen Gesetze, nach denen die Evolution verfährt und die sie uns klarzumachen versucht. Das sind keine vom Menschen gemachten Gesetze. Das sind die unendlich großzügigen Gesetze der intellektuellen Integrität, die das Universum regieren.“[9]  Man muß sich davor hüten, diese Aussagen auf die Naivität zu reduzieren, die sie enthalten. Sollte die große Autodidaktik so weit kommen, die Emissionen der Ignoranz in Grenzen zu halten: Es könnte dies nur geschehen dank der intellektuellen Integrität all derer, die heute die Verantwortung für ihr positiven Wissen und ihre  dunklen Prognosen übernehmen.

 

 


 

Buckminster Fuller, Betriebsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften, Dresden 1998, S. 54

2 Buckminster Fuller, a. a. O., S, 46.

3 Blütenstaub, Fragmente

4 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 15.

5 Etenim, quod corpus possit, nemo hucusque determinavit. Ethik, II. Teil, Lehrsatz 2, Scholie

6 Politeia, II, 372d.

7 Peter Sloterdijk, Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt am Main, 2001, S. 212f.

8 Buckminster Fuller, a. a. O., S. 51

9 Buckminster Fuller, a. a. O., S. 119-120